Wenn ein Weimarer Nachtwächter ins Plaudern gerät …

Weimar zu Fuß zu erleben, ist ein Erlebnis – vor allem, wenn man dabei von einem so charismatischen Nachtwächter begleitet wird wie wir an unserem ersten Abend in Weimar. Pünktlich gegen 21:00 h erscheint auf dem Marktplatz ein braun gebrannter älterer Herr, angetan mit einer Art Kutte, einem Wanderstab und zwei Petroleumlampen – das konnte ja nur der Nachtwächter sein!

Der Nachtwächter

Mittlerweile hat sich eine stattliche Gruppe von gut 40 Leuten angesammelt, von denen nicht alle ein Ticket haben. Bis alle „Eintrittsgelder“ endlich entrichtet sind, geht die Uhr auf 21:30 h. Im breitesten Thüringer Dialekt  erklärt unser Führer lakonisch , dass wir nun eben ein bisschen schneller laufen müssten, um die verlorene Zeit wieder einzuholen – und so legt er auch gleich ein forsches Tempo vor, allerdings nur bis zur nächsten Hausecke.
Der nächtliche „Gewaltmarsch“ beginnt auf dem Marktplatz. Zunächst bewundern wir das neue Rathaus, das 1881 im neugotischen Stil nach einem Brand wiederaufgebaut wurde und einen bemerkenswerten Glockenturm mit Glocken aus Meißener Porzellan besitzt.

Rathaus Weimar

Nach diesem Einstieg in die jüngere Geschichte Weimars geht es dann munter durch die Jahrhunderte, vor und zurück – die geneigten Zuhörer verlieren schon bald den Überblick. Egal, die Geschichten sind interessant und der etwas schnoddrige „Staatsbedienstete“ ergeht sich auch gerne einmal in etwas schlüpfrigeren Geschichten.  Auch lässt er uns teilhaben an seinem politischen Gedankengut und seinen Vorstellungen zur damaligen und heutigen Politik – wir vermuten, er war schon zu DDR-Zeiten Dissident aus Leidenschaft.

Gegenüber vom Rathaus befindet sich ein Haus, in dem  Lukas Cranach der Ältere die berühmte Kreuzigungsszene für den Altar der Hauptkirche gemalt hat. Ein Stückchen weiter steht das berühmte Hotel Elephant, in dem sich die Herren Goethe, Grillparzer und Feininger nicht nur symbolisch die Klinke in die Hand gaben. Thomas Mann hielt hier einen Vortrag, dass sich die Humanisten nicht mit den Nationalisten einlassen sollten … vergebens.

Hotel Elephant

Weiter geht es zur Anna-Amalia-Bibliothek, die unbedingt im Hellen besichtigt werden muss (O-Ton unseres Nachtwächters). Davor steht ein Standbild ihres Sohnes Ernst August. Von diesem Platz aus hat man einen schönen Blick auf das Schloss und diverse Türme.

Wir erreichen die alten Stadtmauern. Langsam wird es dunkel. Hier hat anno dazumal der Geheimrat von Goethe einen Gingko-Baum gepflanzt, den Baum des Lebens, nach dem er so lange gesucht hatte. Über die Straße, vorbei an einer Büste von Alexander Pushkin, geht es in den Park.

Der Gingko-Baum

Hier erfahren wir endlich, warum unser Nachtwächter diesen seltsamen Wanderstab mit sich führt: Dieses Instrument war in (sehr viel) früheren Zeiten ein wichtiges Requisit, denn darauf wurden die Köpfe von Kindsmörderinnen aufgespießt, nachdem man ihnen denselben kurzerhand abgeschlagen hatte.

Buntes Treiben

Nach dieser blutrünstigen Einlage folgt die Geschichte, wie der junge Goethe nach Weimar kam und sogleich eine Gönnerin und Förderin fand, nämlich Charlotte von Stein, die Frau des herzoglichen Stallmeisters.  Er sah eine Göttin in ihr und begehrte sie mit jeder Faser seines jungen Herzens, während sie in ihm nur den Dichter sah, in dessen Gesellschaft sie sich wohl fühlte. Zehn Jahre warb Goethe um ihre Gunst, ohne dass sie ihm gewährt wurde. Er widmete ihr gar sein Theaterstück „Iphigenie auf Taurus“, doch auch das konnte ihr Herz nicht erweichen. Schließlich gab Goethe auf und zog nach Italien, wo er sich ganz dem dolce vita hingab.

„Der Park ist übrigens eine Nachbildung des Wörlitzer Parks.“ (Jaja, die Informationen kommen teilweise recht zusammenhanglos und ohne weitere Erklärung). Leider spricht unser Führer auch ziemlich leise, so dass die hinteren Ränge sowieso fast nichts verstehen.

Wir machen Rast an einer kleinen Brücke über der Ilm. Auch hier ein pikantes Detail: Von dieser Brücke stürzte sich die 17jährige Christine von Laßberg nach der Beschäftigung mit Goethes Werk „Die Leiden des jungen Werther“ in den Tod. Wie tragisch …

Nun verlassen wir den Park und unser nächstes Ziel ist die Kirche St. Peter und Paulus (erbaut zwischen 1245 und 1249, beiden Patronen dann im Jahr 1433 geweiht), die hier in Weimar nur unter dem Namen Herder-Kirche bekannt ist, weil eine Statue Herders direkt vor dem Eingang steht und auch weil Herder hier neben der Herzogin Anna Amalia begraben liegt.

Gegenüber steht das ehemalige Rathaus, über das es nichts weiter zu berichten gibt (wir sind sicher, es gäbe auch darüber etwas zu berichten, aber sicherlich nichts Spektakuläres).

Ein paar Gassen weiter stehen wir vor einem Brunnen aus dem 13. oder 14. Jahrhundert. „So genau weiß man das ja nicht und die Steine reden nicht.“ Hier in diesem Viertel hat Martin Luther gelebt und seinen Freund Melanchthon gesund gebetet, das war im Jahr 1520.

„So um 1800“ lebte hier Christoph Martin Wieland, der Lieblingsdichter von Anna Amalia („Jaja, das war nämlich nicht der Goethe“). Und auch der Sozialpädagoge Falk lebte hier und kümmerte sich um napoleonische und sizilianische Kinder, die hier in Weimar sozusagen als Kriegsgut aus den napoleonischen Kriegen gestrandet waren. Falk war aber nicht nur der Wohltäter der Weimarer Kinder mit Migrationshintergrund, wie wir heute so schön neudeutsch sagen würden, er war auch der Begründer des ersten Frauenhauses in Hamburg UND – wer hätte das gedacht – „erfand“ das schönste deutsche Weihnachtslied „Oh, du fröhliche …“. Ursprung war übrigens eine sizilianische Volksweise, die einer seiner Zöglinge immer wieder gesungen hatte.

Weiter zieht der Tross zum hiesigen Friedhof. Kurz hinterm Eingang bleibt unser Nachtwächter stehen und erzählt die Geschichte der jungen Christiane Vulpius, die eines Tages vor Goethes Tür steht, um für eine Arbeit für ihren Bruder zu bitten. Goethe hilft ihrem Bruder – und behält Christiane gleich bei sich, als Haushälterin und mehr. Nach 17 Jahren und 5 Kindern, von denen nur der Erstgeborene, August, überlebte (alle anderen Kinder starben wegen einer Rhesusfaktorunverträglichkeit), machte Goethe aus seiner Christiane endlich eine ehrbare Frau – nachdem sie einen Soldaten Napoleons heimtückisch erschlagen hatte (Das war nun aber wirklich ein bisschen dick aufgetragen!). 

„Wie komme ich jetzt auf Goethe?“, fragt unser Nachtwächter irritiert. Ratlose Gesichter … wie meint er das? „Ach ja“, erinnert er sich, „Schiller wurde hier auch begraben und eines Tages exhuminierten (!) ein paar besoffene Totengräber ihn wieder, um seine Identität prüfen zu lassen.“ Man breitete die Knochen und den Schädel auf der Wiese aus und der Geheimrat Goethe, auch ein bekannter Anthroposoph seiner Zeit, wurde herbeigerufen, um die Echtheit der Gebeine festzustellen. „Goethe nahm den Schädel in die Hand und rief aus: ‚Ja, es kann keinen Zweifel geben, dieser Schädel gehörte einst Schiller.‘“ Tja, was soll man sagen: Goethe hatte sich geirrt! „Schiller war nämlich gar nicht Schiller! Er war eine Fälschung!“ Und das erfahren wir jetzt … dreißig Jahre nach schulischer Qual mit der Glocke und Dionys, dem Tyrannen! Ach, hätte man es uns doch eher gesagt – wir hätten uns geweigert, Gedichte einer Fälschung auswendig zu lernen!

Doch zurück zu Goethe: Wir besuchen das Grab von Christiane Vulpius. „Goethe war zwar 22 Jahre älter als seine Frau, aber das hielt ihn nicht davon ab, nach etwas noch Jüngerem Ausschau zu halten. Trotzdem hat er sich für den Grabstein seiner Christiane einen schönen Spruch ausgedacht.“ Und der lautet: „Du versuchst o Sonne vergebens durch die düstren Wolken zu scheinen! Der ganze Gewinn meines Lebens ist ihren Verlust zu beweinen.“ Es hat schon was, einen Dichter zum Ehemann zu haben!

Grab von Christiane Vulpius

Vom Friedhof aus laufen wir unsere letzte Station an: die Bibliothek, die von der Großherzogin Maria Pawlowna, der Tochter des Zaren Paul I. und Bruder von Alexander I, erbaut wurde. Vorbild für diese Bibliothek war der Nike-Tempel in Athen.

Und hier endet die Tour mit dem Weimarer Nachtwächter, der uns seine zusammenhanglosen Geschichten mit Inbrunst und in teilweise sehr abenteuerlichem Deutsch darbot und uns auf die schönsten Ideen brachte, wie wir uns zukünftig unserer Sprache bedienen könnten.

Ob wir aber seinen Erzählungen trauen können und wie hoch der Wahrheitsgehalt derselben ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Lassen wir sie einfach ungeprüft stehen, denn sie sollten vielleicht auch nur unterhalten – und das haben sie.

Ein sehr schöner Einstieg in unser langes Weimar-Wochenende. Wir hätten wirklich was verpasst, wenn wir uns diese Führung hätten entgehen lassen.

Erlebt im August 2011