Bei strahlendem Wetter fand am 1. Mai das beliebte Kulturvolksfest auf dem Hügel rund um das Festspielhaus statt – wie immer mit zahlreichen Veranstaltungen und der DGB-Kundgebung unter dem Motto „Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit“.

 

IDas Kulturvolksfest ist ja eigentlich immer gut besucht, aber das gute Wetter lockte sehr viele Besucher an. Dementsprechend gut besucht waren auch die einzelnen Acts. Ich habe mir im Festzelt das Akkordeon-Orchester Recklinghausen e. V. (AORE) mit ihrem Programm „Akkordeon goes Rock & Pop“ angehört. Akkordeon bringt man ja doch eher mit Volksmusik in Verbindung, umso schöner zu hören, dass auch Stücke der Black Eyed Peas, Michael Jackson, Groenemeyer und selbst Dirty Dancing durchaus akkordeontauglich sind. Mir haben die Musiker leidgetan, die in dieser Affenhitze (im Festzelt waren gefühlt 40 °C) und unter den grellen Scheinwerfern eine Stunde spielen mussten – was sie aber wirklich grandios gemacht haben. Den Gesichtern war teilweise das Leiden anzusehen. Dennoch soll nicht unerwähnt bleiben, dass AORE den 2. Platz bei der Akkordeon-Landesmeisterschaft in Herne geholt hat!

Der zweite Act war ein Auftritt des Ensembles der Schule für Bühnentanz Robin Lynn mit „Maybe this time“. Getanzt wurden drei Stücke: „Soleca – die Einsamkeit“, „Les Sylphides“ (eine Prélude von Chopin) und Ausschnitte aus „Cabaret“. Alle Tänzerinnen waren hervorragend und es war eine Freude, ihnen zuzusehen. Ein besonderes Highlight war der Stepptanz von Robin Lynn mit der 11-jährigen Anna, die erst seit Kurzem in der Schule trainiert.

Auch draußen fanden verschiedene Vorführungen statt, u. a. von PortAL Formidabel, einem Künstler-Duo aus Recklinghausen. Ihre mehrsprachige Version von „Bella Ciao“ erheiterte die Zuhörer und auch ihre Persiflage auf „Bruttosozialprodukt“ erzielte einige Lacher. Wobei ich sagen muss, mein Humor ist das nicht. Ich habe meine Probleme damit, wenn jemand pauschal „faule“ Arbeitnehmer, Bürgergeldempfänger und Helikopter-Mütter für ein sinkendes Bruttoinlandsprodukt verantwortlich macht.

Was mir auch nicht so gut gefallen hat, war die Länge der drei Veranstaltungen im Festzelt. In den vergangenen Jahren umfassten sie 30 Minuten, jetzt eine Stunde. Nicht, dass ich nicht so lange stillsitzen oder mich konzentrieren kann, aber dadurch war es nicht möglich, auch andere Vorstellungen zu besuchen. Ich hätte mir gerne die Lesung von Fatih Çevikkollu angehört, aber da sie um 13:00 Uhr begann, musste ich mich zwischen Akkordeon-Konzert und Lesung entscheiden. Man kann halt nicht alles haben.

Aber wichtiger als das Kulturvolksfest sind ja allemal die verschiedenen Aufführungen im Rahmen der Festspiele. Und da habe ich mir Einiges angesehen.

Dancing Grandmothers

Unter Leitung der südkoreanischen Choreografin Eun-Me Ahn, eine Wegbegleiterin von Pina Bausch, erfährt der Zuschauer mehr über ihre Heimat – und zwar tanzend. Vor über 10 Jahren reiste sie durch Südkorea und bat Großmütter an allen möglichen Orten zu tanzen. Daraus entstand dann eine Show, die auch heute noch nichts an Aktualität verloren hat.
Soweit die Theorie.

Ich weiß noch immer nicht, wie ich diese 90 Minuten „verarbeiten“ soll, will aber gerne versuchen, meine Eindrücke zu schildern.

Im Hintergrund der Bühne läuft ein Film. Wir sitzen in einem Auto und fahren recht schnell durch die südkoreanische Landschaft – jedenfalls vermute ich das. Es könnte auch Essen-Borbeck sein. Plötzlich erscheint am Straßenrand eine ältere Frau (Eun-Me Ahn) und schlurft über die Straße, während wir mit unverminderter Geschwindigkeit weiterfahren. Nach einer Weile gesellen sich weitere ältliche Frauen dazu und schlurfen über die Bühne, ehe sie anfangen zu tanzen – und zwar recht rasant. Schnell wird klar, dass das nun wirklich altersmäßig keine Großmütter sein können. Sie schlagen ganz un-großmütterlich Rad und Purzelbäume und auch Headbangen ist ihnen nicht unbekannt. Zur Untermalung läuft Hiphop – laut, eintönig, mit immer wiederkehrenden hämmernden Rhythmen und dazwischen eine Sopranistin, die ein langgezogenes „Aaaah“ in den Saal schreit. Dem Zuschauer wird eine Menge abverlangt. Das Ganze gipfelt darin, dass sich die gesamte Company in einem epileptischen Anfall (so sieht es jedenfalls aus) minutenlang zuckend auf der Bühne wälzt. Es verwundert mich nicht, dass nur zögerlich und verhalten applaudiert wird.

Danach ist Ruhe. Wohltuende Ruhe. Es folgt ein Stummfilm, in dem wir endlich die tanzenden Großmütter sehen. Sie tanzen an allen möglichen Orten: auf dem Markt, am Strand, auf dem Bahnsteig, im Hinterhof, im Wald, in der Fabrik, im Lebensmittelgeschäft – man kann die Orte gar nicht alle aufzählen. Rund 60 Großmütter tanzen, so scheint es, nach ihrer ganz eigenen Melodie. Eines ist ihnen aber allen gemeinsam: die unbändige Lebenslust. Es ist eine Freude, ihnen zuzusehen. Und auch das Publikum hat Spaß, wie das immer wieder aufbrandende Lachen zeigt. Innerlich denke ich, ach, hätte man diese Frauen doch nach Recklinghausen gebracht!

Und tatsächlich! Nach dem Film betreten acht der tanzenden Großmütter die Bühne und tanzen zusammen mit den Profis zu den Klängen einer koreanischen Schlagermusik aus den 1960er Jahren. Später wechselt die Musik zu Schlagermusik der Neuzeit. Mal tanzen die Großmütter mit den jungen Tänzerinnen (und auch Tänzern), mal allein, mal sind wieder nur die Profis am Werk.

Ohne die großartige tänzerische Leistung der Akteure schmälern zu wollen, habe ich mich doch das eine oder andere Mal gefragt, was diese Choreographie – abgesehen von dem Filmteil – mit den tanzenden Großmüttern zu tun hatte.

Ein Novum gab es dann noch zum Schluss: Eun-Me Ahn forderte alle Anwesenden auf zu tanzen. Die Profis kamen von der Bühne und animierten das Publikum, das der Aufforderung gerne nachkam. Und so rockte die Kompanie von Eun-Me Ahn das Große Haus.

Der Dibbuk

Vorlage für diese Arbeit der KULA Compagnie ist ein bedeutendes Werk der jiddischen Literatur, nämlich die Geschichte vom Dibbuk, einem oftmals bösen Totengeist, der in den Körper eines Lebenden einfährt und ihn zu irrationalem Verhalten bringt. In diesem Stück ist es der Dämon eines toten Mannes, der die Braut eines jüdischen Brautpaares besetzt.

Die KULA Compagnie ist eine transnationale Theatergruppe und eine Plattform für transkulturelle Projekte. Sie fördert und veranstaltet Projekte aller Kunstgattungen, um den europäischen Gedanken im Sinne einer diversen, multikulturellen und mehrsprachigen Gemeinschaft zu stärken.

Für die Produktion des Dibbuk stehen Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland, Frankreich, Italien, Russland, Israel, Iran und Afghanistan auf der Bühne, die teilweise gar nicht real zusammen proben konnten, weil der eine nicht in das Land der anderen einreisen durfte oder weil der Krieg in Nahost Reisen zurzeit unmöglich macht.

Um es kurz zu machen: Es war eine fantastische Aufführung! Der Regisseur setzte die Erzählung in einen modernen, interreligiösen Kontext und der Dibbuk steht hier (für mich) für das Aufbäumen gegen ein archaisches Weltbild. Bei kargem Bühnenbild lebte die Inszenierung tatsächlich eher von der Sprache oder besser gesagt: der Mehrsprachigkeit als von Handlungen. Die Protagonisten sprachen ihre jeweilige Muttersprache, für das Publikum gab es die Übersetzung als Übertitel. Das war äußerst faszinierend.
Leider war das Theater nur spärlich besetzt, was ich persönlich sehr schade fand, denn dieses Stück hätte wesentlich mehr Aufmerksamkeit verdient – gerade vor den politischen Gegebenheiten, mit denen wir zurzeit leben müssen.

Nach der Aufführung gab es noch ein Publikumsgespräch mit allen Beteiligten, in denen u. a. Fragen zur Möglichkeit und Unmöglichkeit gemeinsamer Proben beantwortet oder auch das Erleben der verschiedenen Demonstrationen gegen die eine oder die andere Konfliktpartei beleuchtet wurden. Sehr schön war der Beitrag einer Zuschauerin, die zum Schluss darauf hinwies, dass doch in uns allen dieser Dibbuk wohnt und wir ihn dringend bekämpfen müssen, wenn wir dem Menschen endlich ein Mensch sein wollen.

Besonders gefreut hat mich die Bekanntgabe, dass die Kula Compagnie gerade am Tag der Aufführung den ITI-Preis 2024 erhalten hat, den Preis des Internationalen Theaterinstituts – Zentrum Deutschland. Mit diesem Preis werden Künstlerinnen und Künstler für ihre internationale Arbeit gewürdigt. Die Kula Compagnie hat diesen Preis wirklich verdient. 

Die Hauspostille

Lars Eidinger liest aus Brechts „Hauspostille“, die Musik stammt u.a. von Kurt Weill. Die Gedichte in dieser Sammlung entstanden in der Zeit von 196 bis 1925 und sind eine Anspielung auf fromme Predigten, früher eben Hauspostille zur häuslichen Erbauung genannt. Wie von Brecht zu erwarten, sind die Texte sozialkritisch und auch ein wenig morbide – und Lars Eidinger hat es sehr gut verstanden, beides gelungen vorzutragen. Nicht zuletzt auch mithilfe von Hans-Jörn Brandenburg und seinen Musikinstrumenten, zwischen denen er gekonnt wechselte.

Die Texte waren hervorragend gewählt und faszinierten das Publikum (im fast ausverkauften Großen Haus) wahrscheinlich so sehr, dass es fast eine Viertelstunde dauerte, bis der erste Applaus aufkam. Eidinger wechselte zwischen Gedichten und Sprechgesang und intonierte zwischendurch „Fool on the hill“ von den Beatles in einer etwas eigenwilligen, aber durchaus „anhörbaren“ Version.

Zum Schluss gab es noch eine Zugabe, und zwar die „Kinderhymne“, geschrieben 1950 und noch im gleichen Jahr von Eisler vertont. Gerade in der heutigen Zeit mit all jenen Strömungen und Bestrebungen, gegen die Brecht zu seiner Zeit ankämpfte, hat dieses Gedicht nichts an Aktualität verloren. Nach der letzten Strophe intonierte Eidinger „Imagine“ von John Lennon und unterstrich damit die Aussage der Kinderhymne. Ein wirklich guter Abschluss.

Auch, wenn die Gedichte Brechts und der Vortrag Eidingers im Vordergrund standen, muss ich jetzt noch ein wenig zum Outfit der beiden Akteure sagen, weil das so passend für den Abend war. Hans-Jörn Brandenburg trug ein Hemd und eine Hose, die stark an die Arbeitskleidung der Chinesen zu Zeiten Maos erinnerte. Und Lars Eidinger trug einen dunkelgrauen Anzug im Schnitt der 1920/1930er Jahre, der ihm extrem zu groß war. Die Hose zu lang, die Schultern zu breit und auch die Ärmel hätten um einige Zentimeter kürzer sein können. Einfach perfekt!

Es war ein runder Abend, der den beiden Entertainern auf der Bühne hoffentlich genauso viel Freude gemacht hat wie dem Publikum.

Hagen Rether „Liebe“

Mit seinem (tages-)politischen Programm gehört Hagen Rether wohl zu einem der Highlights der Ruhrfestspiele, sofern man überhaupt von besonderen Highlights sprechen kann, denn eigentlich sind alle Veranstaltungen Highlights.
Angekündigt mit drei Stunden inklusive Pause, war Rether kaum zu bremsen und so dauerte das Programm dreieinhalb Stunden zuzüglich Pause – sehr zur Freude der Anwesenden.

Zu Hagen Rether muss man eigentlich nichts mehr sagen. Er versteht es wie kein anderer (außer vielleicht Volker Pispers), die Unzulänglichkeiten von Politik und Gesellschaft auf den Punkt zu bringen – und das in einer sehr ruhigen und unaufgeregten Art. Wie ein roter Faden zieht sich sein nachdenkliches „Ich versteh das einfach nicht …“ durch sein Programm, gefolgt von dem (an diesem Abend) plötzlich sehr lebhaften Running Gag „… und da wollte ich Sie fragen: Haben Sie eine Idee?“

Die Zeit verging wie im Flug und ich glaube, wir alle hätten ihm noch stundenlang zuhören können.

Es ist schade, dass Rether sich im Fernsehen so rar macht, aber ehrlich gesagt: Ihn live auf der Bühne zu erleben, toppt jede Konserve.

Late Night Hamlet

Ein Solo mit Charly Hübner, der sich (laut Ankündigung) in einer rasanten Produktion komisch und auch dramatisch mit Fragen befasst, die den tragischen Helden Hamlet umtreiben.

Ich weiß eigentlich immer noch nicht, was ich jetzt davon halten soll. Oder anders ausgedrückt: Was habe ich eigentlich erwartet? „Late Night“ hätte mich ja schon darauf vorbereiten können, dass es keine ernsthafte Hamlet-Adaption werden würde. Aber so war ich dann doch sehr überrascht von dem, was auf der Bühne geboten wurde. Angenehm überrascht!
Eine Beschreibung fällt mir dennoch schwer. Hübner war laut und leise, engagiert und gelangweilt, mal Hamlet, mal Hübner – und das im rasanten Wechsel. Die Zweifel, die Hamlet plagten, plagten auch Hübner, wenn auch in anderen Dimensionen.

Ich habe schon sehr merkwürdige Hamlet-Aufführungen gesehen, die mit dem Original so gar nichts gemein hatten, aber Late Night Hamlet hat mich durchaus in den Bann gezogen.

Wie anstrengend diese Stunde für Hübner war, ist ihm dann auch wirklich anzusehen. Hut ab vor dieser Leistung!

Das Programm der diesjährigen Ruhrfestspiele sorgte, soweit ich es nach den wenigen Aufführungen, die ich besucht habe, beurteilen kann, wieder einmal für ein gelungenes Theaterfestival. Schade, dass es vorbei ist, aber nach den Ruhrfestspielen ist vor den Ruhrfestspielen.

Ich freue mich jetzt schon auf nächstes Jahr