Achtung – Satire
Wer wie ich mehrmals im Jahr mit der Bahn aus dem Kohlenpott nach Berlin fährt, kommt nicht umhin, den Bielefelder Bahnhof kennenzulernen. Aber was sage ich? Kennenlernen? Kann man eine Stadt kennenlernen, die es gar nicht gibt? Natürlich nicht!
Doch der Bahn ist es gelungen, einen Mythos am Leben zu halten, nämlich den, dass es Bielefeld tatsächlich gibt! Die Kulisse des Bahnhofs ist perfekt, sofern man das im Vorbeirauschen erkennen kann. Lebensecht wirkende Wachsfiguren, je nach Jahreszeit gekleidet – und selbst die Werbeplakate werden regelmäßig ausgetauscht, um die Illusion einer Stadt so realistisch wie möglich aufrechtzuerhalten. An manchen Tagen befinden sich sogar Statisten auf den Bahnsteigen, die ihre Rolle als Bahnfahrende mit Inbrunst ausfüllen.
Aber der gewiefte Reisende lässt sich davon nicht täuschen. Und dass es sich nur eine Täuschung handeln kann, wird jedem Zugreisenden, der in den frühen Morgenstunden in Richtung Berlin unterwegs ist, schnell klar. Dort, wo neben dem Bahnhof der Blick auf Stadtleben fallen sollte, sieht man … nichts.
Undurchsichtiger Nebel wabert nur wenige Zentimeter über angedeutetem Grün. „Kann es denn sein, dass es hier immer nebelig ist?“, grübelt der aufmerksame Reisende. Oder ist es nicht vielmehr so, dass der Bahnbetreiber riesige Nebelmaschinen aufgestellt hat, damit niemand merkt, dass alles nur Kulisse ist? Wer sich nicht in das Grauen wagt, wird es nie erfahren.
Doch selbst dieses Wagnis eingehen zu wollen, ist leichter gesagt als getan! Die Bahn zeigt Verantwortung für ihre Fahrgäste und setzt sie erst gar keinem Risiko aus. An manchen Tagen saust der Zug durch einen Bahnhof und der angestrengt hinaus blickende Weltenbummler erkennt schemenhaft den Namen: Bielefeld.
Und langsam, ganz langsam schleicht sich ein diffuser Gedanke ins Bewusstsein: „Wir halten doch immer hier! Wieso heute nicht?“ Die Erklärung folgt kurze Zeit später durch Ansage des Zugbegleiters: „Meine Damen und Herren, leider sind wir am Hauptbahnhof Bielefeld vorbeigefahren.“ Ja, gut, der aufmerksame Reisende hat das durchaus mitbekommen!
Eine kleine Bemerkung am Rande: Der gemeine Zugbegleiter sächselt gerne, das gibt der Mitteilung erst den richtigen dramatischen Touch. Aber bitte, keine Ressentiments – ich liebe den sächsischen Dialekt! Gut, ich würde nicht behaupten, ich fahre nur deswegen mit der Bahn, aber es ist doch immer wieder ein Highlight, unsere Brüder und Schwestern aus den nicht mehr ganz so neuen Bundesländern reden zu hören. Der Thüringer, so meine Erfahrung, doziert auch gerne – vorzugsweise über die Funktionsweise der Heizungs- und Klimaanlage im Zug, wobei er aber auch nicht mit praktischen Tipps spart. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Bleiben wir bei Bielefeld.
Irgendwann ist auch die schönste Reise zu Ende und es geht zurück von Berlin via Bielefeld in die Gefilden an der Ruhr. Da kann es schon mal vorkommen, dass der Zug ein paar Kilometer vor Bielefeld anhält. Was ist passiert? Weichen nicht richtig gestellt? Bahnreisende sind ja (meistens) sehr geduldige Menschen und so blickt man zwar verwundert aus dem Fenster, denkt sich aber noch nicht allzu viel. Nach einer halben Stunde aber wird man doch etwas nervös. Und endlich! Die erlösende Durchsage des Zugbegleiters (vorzugsweise mit leicht sächsischem Akzent): „Meine Damen und Herren, wir können im Augenblick leider nicht Bielefeld Hauptbahnhof erreichen. Reisende mit Fahrtziel Bielefeld werden gebeten, den Zug jetzt zu verlassen. Sie werden gleich mit einem anderen Fahrzeug weiterbefördert.“ Es entzieht sich dem Chronisten, ob tatsächlich Leute ausgestiegen sind. Nach einer weiteren, gefühlt endlosen Zeit geht es auch für die Reisenden ohne Fahrtziel Bielefeld weiter. Muss ich noch erwähnen, dass wir „Bielefeld“ nur schemenhaft erkennen konnten?
Diese (wahre!) Geschichte ist meinem geschätzten Kollegen Chris gewidmet, der mich immer wieder herausgefordert hat, Neues aus der Geisterstadt zu erzählen, und der es nicht leid wurde, Fragen über Bielefeld zu stellen, um zu immer neuen Geschichten anzuregen. Ich hoffe, lieber Chris, du liest sie – wo immer du sein magst.