Die 77. Ruhrfestspiele beginnen bald und große Ereignisse werfen bekanntlich ihre Schatten voraus. Und so war die
Vorstellung des neuen Programms nicht nur sehr anregend, sondern lässt – zumindest mich – den Startschuss
herbeisehnen.

Der Festspieldirektor Olaf Kröck ließ es sich nicht nehmen, zusammen mit seinen Mitstreitern , u.a. Jan Hein (Chefdramaturg) und Ulrike Rickhoff mit Aloys Banneyer (beide u.a. zuständig für die jungen Ruhrfestspiele), den anwesenden Gewerkschaftsvertretern und weiteren Gästen das neue Programm unter dem Motto „Rage und Respekt“ vorzustellen.
„Rage und Respekt“ … warum ausgerechnet dieses Thema? Eigentlich liegt es auf der Hand. Wir müssen uns ja nur in der Welt umschauen: Von den furchtbaren Kriegen und Katastrophen können wir uns nicht einfach abwenden und manchmal packt uns die Wut – und manchmal nicht nur vor Hilflosigkeit, sondern auch vor der Respektlosigkeit, die – so scheint es – schon fast zum guten Ton gehört.
Das Programm der Ruhrfestspiele wird diesem Motto jedenfalls mehr als gerecht.
Ich kann hier nicht auf alle 89 Veranstaltungen eingehen, aber einige haben mich bei der Programmvorstellung schon so gepackt, dass ich hier näher darauf eingehe und euch einen Besuch wärmstens ans Herz lege.
Ein Wort vorab: Ich werde mich bei diesen Empfehlungen möglichst kurz halten. Wer gerne mehr wissen möchte, kann sich ja anhand der Stichwörter (fett) problemlos im Internet weitere Informationen holen. Das alles würde hier aber den Rahmen sprengen.
Den Anfang am 03.05.2023 macht, nach der Eröffnungsrede von Anne Weber, das internationale Theaterstück „Drive your plow over the bones of the dead“. Dargeboten wird das Stück von der britischen Theatergruppe Complicité unter der Regie von Simon McBurney. Es basiert auf Olga Tokarczuks Roman „Der Gesang der Fledermäuse“, der mit schwarzem Humor und scharfer Zivilisationskritik daherkommt. Die Aufführung ist auf Englisch mit deutschen Übertiteln.
In der Reihe „politisches Theater“ sind mir gleich vier Stücke aufgefallen.
Einmal „Der Wij“ (zu Deutsch: der Krieg), eine Aufführung des Thalia Theaters Hamburg unter der Regie von Kirill Serebrennikov. Das Stück basiert auf einer Erzählung von Nikolai Wassiljewitsch Gogol.

Zum Zweiten „Pah Lak“ von Abishek Majumdar, ein Stück über gewaltlosen Widerstand gegen brutale Unterdrückung, das sich eindeutig gegen die chinesischen Besatzer richtet und von diesen als Affront betrachtet wird. Die Aufführung ist in tibetischer Sprache mit deutschen Übertiteln und feiert bei den Ruhrfestspielen Europapremiere!
Das dritte Stück ist „And now Hanau“. Worum es geht, muss wohl nicht erklärt werden. Ich denke, jeder erinnert sich noch an das schreckliche Attentat. Der Autor Tuğsal Moğlu setzt sich in seinen Werken mit rassistisch motivierter Gewalt in Deutschland auseinander.
Und ebenfalls in die Sparte Politik ist wohl „Brecht im Spiegel“ einzuordnen, ein literarisch-musikalischer Abend mit Angela Winkler, die Texte von Brecht liest und mit Liedern von Kurt Weill und Hans Eisler für einen rundum gelungenen Abend sorgen wird. Da bin ich sicher. Begleitet wird sie vom delian::quartett.
Ein absolutes Highlight der Ruhrfestspiele dürfte „Die Ärztin“ sein – ein Stück, das niemanden kalt lässt (so Olaf Kröck). Es handelt sich hierbei um eine sehr freie Adaption des Stückes „Professor Bernhardi“ von Arthur Schnitzler. Der britische Autor und Regisseur Robert Icke hat daraus einen Moralthriller gemacht, der es in sich haben dürfte. Regie in Recklinghausen führt Stefan Pucher.
Erwähnenswert ist hier auch noch das „Tempest Project“, die letzte Regiearbeit des im vergangenen Jahr verstorbenen Peter Brook.
Auch „Phädra in Flammen“ von Nino Haratischwili verspricht eine völlig neue Sichtweise auf die Tragödie, wie sie von Euripides, Ovid oder Seneca erzählt wird. Das ist übrigens eine deutsche Uraufführung.
Hochgelobt ist auch „Einer flog über das Kuckucksnest“ (Regie Leander Haußmann) mit dem Inklusionstheater RambaZamba.
In die Sparte „Außergewöhnliches“ gehört „Wer warst du, E.?“ Das ist kein Theaterstück, sondern ein jeweils einstündiger Audio-Spaziergang durch die Vergangenheit Recklinghausens vor rund 90 Jahren, als Nationalsozialisten hier ihr Unwesen trieben. Gefördert wird dieses Projekt durch die Bundeszentrale für politische Bildung.

In diesen Themenkreis reiht sich auch eine Lesung mit Paula Beer ein. Sie liest aus dem „Pariser Tagebuch“ von Hélène Berr, die sich trotz ihrer jüdischen Herkunft nicht von den Nazis einschüchtern ließ und diesen Mut 1945 mit dem Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen bezahlen musste.
Ein besonders ambitioniertes Projekt ist „RadiOh Europa“. Seit 2018 sind Gemma Paintin und James Stenhouse (das Duo Action Hero) in europäischen Länden unterwegs und laden Menschen zum Singen ein – aber nicht irgendwelche Lieder, sondern Liebeslieder! Und all diese Lieder werden nun in einer Radiosendung zusammengefasst, die zum Abschluss der Ruhrfestspiele acht Stunden lang ausgestrahlt wird – live vor Ort und digital im Internet, so dass sie in ganz Europa zu hören sein wird.
Bleibt noch anzumerken, dass viele weitere Aufführungen hier eine Erwähnung wert wären, aber schaut selbst ins Programm. Neben Schauspiel gibt es Zirkus, Kabarett, Musik, Tanz, Kinder- und Jugendtheater – da ist wirklich für jeden was dabei!
Und nicht zu vergessen die Reihe „Partei ergreifen“. In dieser Diskussionsreihe sind drei Themen geplant, in deren Rahmen mit dem Publikum über Politik und Kunst diskutiert wird.
Nicht unerwähnt bleiben soll, dass die Vorstellung des Programms der 77. Ruhrfestspiele musikalisch von Joyce Nuhill in Begleitung von Thomas Hufschmidt untermalt wurde. Nuhills Interpretation von „A night like this“ war fantastisch und besser als das Original, was ihrer ganz außergewöhnlichen Stimme zu verdanken ist. Allerdings war mir die Musik für „Rage und Respekt“ doch etwas zu „loungig“, was aber die Performance der Künstler keineswegs schmälert.

Aber jetzt freue ich mich erst mal auf den 1. Mai und das Kulturvolksfest auf dem Hügel, das um 12:00 Uhr beginnt und für die ganze Familie einen wunderbaren Tag verspricht. Ab 15:00 Uhr findet die Maikundgebung des DGB unter dem Motto „Ungebrochen solidarisch“ statt.
Ich wünsche uns allen ein Traumwetter und zwei Monate erlebnisreiche, fantastische, nachdenkliche und nachwirkende Ruhrfestspiele!
Und zum Abschluss noch ein paar Impressionen vergangener Kulturvolksfeste.
Ich hoffe, wir sehen uns!















